Gertrud Fürchtenicht ist in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Rehburg viele Jahre Pfarramtssekretärin gewesen. Im Jahr 1978 schrieb sie ihre Erinnerungen an die Amtszeit von Pastor Hapke auf, der vom 1. Juli 1942 bis zu seinem Tod am 7. August 1970 der Rehburger Gemeinde vorstand.
Manche dieser Erinnerungen geben ein Bild des Lebens in Rehburg zur Zeit des Zweiten Weltkrieges wieder. Wir veröffentlichen deshalb diese Erinnerungen in Auszügen, auch wenn sie in kei- nem direkten Zusammenhang mit den Verfolgten des Nationalsozialismus in unserer Stadt stehen:
1942 übernahm Pastor Hapke das Pfarramt. Die Pfarrstelle war über zwei Jahre unbesetzt ge- wesen. Das Pfarrhaus war in den zwei Jahren von Soldaten der Wehrmacht bewohnt und ließ nach der Freigabe viel zu wünschen übrig. Manche wertvolle Akten sind in jener Zeit verloren gegangen.
Durch die lange Vakanz war die Kirchengemeinde ziemlich auseinander gefallen und das kirchliche Leben so gut wie tot. So versuchte nun Pastor Hapke in mühevoller Kleinarbeit und unter den erschwerenden Einwirkungen des Krieges eine Frauen- und Jugendarbeit und später dann auch Männerarbeit aufzubauen. Es ging erst langsam, Schritt für Schritt, denn die Frauen hatten vielfach politische Querelen zu befürchten, weil die NS-Frauenschaft ja in höchster Blüte stand. Trotzdem ist Pastor Hapke diese Aufgabe weithin gelungen, denn noch heute, fast 35 Jahre später, kommen noch viele Frauen in den Frauenkreis, die schon von Anfang an dabei waren.
An den Abenden herrschte meistens ein fröhlicher Ton und es war ja auch ganz lustig, wenn jede Frau mit ihrem eingewickelten Stück Torf ankam, denn Kohlen gab es ja nicht. Ich möchte noch sagen, dass trotz allem Spaß und aller Fröhlichkeit doch immer Gottes Wort - in irgend- einer Form - stets im Mittelpunkt des Abends stand. Und das war es ja auch, was die Frauen suchten und brauchten, wo ihre Männer an der Front waren. Sie kamen in der Dunkelheit oft mit abgeblendeten Stalllaternen, aber sie kamen - trotz aller Angst - und das gab Auftrieb und machte Mut! Durch die Treue und Hilfsbereitschaft der Frauen kam alles etwas leichter in Gang...
Eines möchte ich noch erzählen - durch Hamburger Flüchtlinge hatten wir eine Quelle entdeckt, bei der man gegen Speck und Schmalz selbst gezogene Weihnachtskerzen bekommen konnte. Natürlich nur heimlich und unter der Hand. Nach einer vertraulichen Rücksprache mit einigen Frauen bekamen wir die geforderte Menge Fett zusammen und so hatten wir Weihnachten schöne, hell strahlende und leuchtende Christbäume...
Einschub - auf der Rückseite der handschriftlichen Unterlagen von Gertrud Fürchtenicht ist eine Seite mit Anmerkungen der Rehburgerin Mariechen Busse hinterlassen:
Wie ich auf der Vorderseite schon erwähnte, hatten die Frauen oft unter der politischen Lage zu leiden.
Ein Beispiel dafür: Im Jahre 1943 wurde unser damaliger Küster Heinrich Voigt zur Wehrmacht eingezogen. Ersatz hatten wir nicht ... Schließlich erklärte sich unsere Kindergottesdiensthelferin, Fräulein Busse - heute Frau Pudlat - bereit, den Dienst des Küsters trotz ihrer eigenen vielen Arbeit in der Landwirtschaft noch zu übernehmen ... Als nun bekannt wurde, dass Frau Pudlat diesen Dienst übernommen hatte, bekam sie schon bald die Aufforderung, sich bei der Parteileitung zu melden. Es wurde ihr ganz unmissverständlich klar gemacht, diese Arbeit wieder niederzulegen, da sie sonst Schwierigkeiten bekommen würde. Frau Pudlat sagte darauf, sie könne kein Verbrechen darin sehen, wenn sie für einen zur Wehrmacht eingezogenen Mann dessen Arbeit vertretungsweise mit übernähme und sie würde die Arbeit fortsetzen. Sie erschien also weiterhin jeden Sonnabend, um die beiden Kirchenöfen mit Torf anzuheizen und in der Nacht kam sie noch einmal in Begleitung ihres Vaters und mit einer Stalllaterne ausgerüstet, um die Öfen wieder vollzupacken. Nach einiger Zeit bekam Frau Pudlat die Quittung für die missachtete Warnung. Sie wurde eingezogen und wurde bei der Feuerwehr auf dem Flugplatz Wesendorf ausgebildet und hat dort mehrere Monate Dienst getan...
Außer Bad Rehburg war auch noch die Nachbargemeinde Mardorf bis zur Rückkehr des dortigen Pfarrers aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1946 mit zu betreuen. In schlimmer Erinnerung ist mir noch der Silvesterabend 1944. Während des Gottesdienstes gab es schon Luftalarm. Wir fuhren dann gleich nach dem Gottesdienst in völliger Finsternis mit dem Pferdegespann - über uns die Tiefflieger - nach Rehburg zurück. Wir hatten ehrlich Angst, weil auch das Pferd durch den Lärm der Flugzeuge immer scheute und dem Fahrer viel zu schaffen machte. …
Die schreckliche Auswirkung des Krieges machten sich auch in unserer Gemeinde bemerkbar und eine Trauerfeier nach der anderen musste für die gefallen Soldaten gehalten werden. Oft wurde Pastor Hapke gebeten, den Angehörigen die schlimme Nachricht vom Tode eines Ange- hörigen zu überbringen. Es war immer eine schmerzliche und bedrückende Pflicht. In den Häu- sern spielten sich dann oft schmerzliche und bedrückende Szenen ab. Viel Rat und Trost war nötig.
Mehr zum Ende des Krieges fanden über unserem Gebiet oft heftige Luftkämpfe statt, wobei auch hin und wieder ein Flugzeug abstürzte. Eines dieser abgestürzten Flugzeugwracks wurde erst nach Jahren -tief im Moor steckend- mit dem Skelett des Piloten gefunden.
Eines Abends ging eine Verwandte von Hapkes in die Pfarrscheune, um die Tiere zu füttern. Als sie die Tür öffnete, prallte sie entsetzt zurück. Ihr gegenüber stand ein fremder, völlig verwildert aussehender Mann. Die alte Dame schlug die Tür sofort wieder zu und holte Herrn Hapke. Der sprach erstmal mit dem Mann und holte ihn dann ins Haus. Es stellte sich heraus, dass er ein abgestürzter, amerikanischer Flieger war. Er war im Schutz der Dunkelheit bis an den Ort herangekommen und hatte gedacht - wo ein Kirchturm ist, ist auch eine Kirche und in der Nähe auch wohl ein Pfarrer und der wird mich ja wohl nicht gleich erschießen. Der Amerikaner hatte sich schon zwei Tage in der Scheune versteckt gehalten ohne bemerkt zu werden, aber er wagte nun doch nicht zum Vorschein zu kommen, weil er immer wieder andere Menschen auf dem Hof sah. Mehrere Tafeln Schokolade waren seine ganze Nahrung. Der Gefangene konnte sich einigermaßen verständlich machen und war nett, freundlich und dankbar. Er musste sich erstmal gründlich waschen und rasieren, bekam saubere Wäsche von Herrn Hapke und konnte sich dann gründlich satt essen. Eigentlich hätte Herr Pastor ja diesen Vorfall melden müssen, denn er brachte sich ja selbst auch in Gefahr. Aber er tat es nicht, sondern gönnte den armen Kerl noch eine ruhige Nacht ohne Angst. Am anderen Morgen musste die Sache ja dann gleich gemeldet werden. Herr Hapke sagte ungefähr so, dass der Gefangene sich spät abends „freiwillig“ gestellt habe, aber da habe er (Hapke) niemanden mehr belästigen wollen und habe den Mann unter Aufsicht bei sich behalten. Es kamen zwei Wachsoldaten und holten den Gefangenen ab. Der Mann bedankte sich freundlich. Wie uns später gesagt wurde, sollte der Amerikaner in ein Gefangenenlager nach Oberursel im Taunus gebracht werden. Lei- der ist der Mann dort niemals angekommen. Es gab noch Ende des Krieges viel Rückfragen und Scherereien deswegen. Was war damals ein Menschenleben wert?
Anfang April rückte die Front immer näher. Die deutschen Soldaten hatten die Weserbrücke bei Stolzenau vor ihrem Rückzug noch gesprengt, aber das war ja für die Engländer absolut kein Hindernis. Innerhalb von zwei Stunden war schon eine Behelfsbrücke hergestellt und die feindlichen Truppen konnten ungehindert herüber. Am Nachmittag des 7. April bekam Rehburg von Westen her Artilleriebeschuss. Viele Rehburger zogen daraufhin, mit dem Pferdewagen und einem Teil ihrer Habe (Betten) in den Wald, um dort Schutz zu suchen. In der Nacht wurde der Beschuss erheblich stärker. Die heranrückenden Engländer hatten den Kirchturm zum Ziel, weil sie festgestellt hatten, dass zwei Tage zuvor eine SS-Einheit auf dem Kirchturm eine Telefonzentrale eingerichtet hatte, die aber beim plötzlichen Rückzug wieder abgebaut wurde.
Bei dieser Rückerinnerung fällt mir noch ein Erlebnis ein. Die Soldaten schleppten ihre Kabel den Kirchturm hinauf und da bat plötzlich einer dieser Soldaten Herrn Hapke, ob er wohl erlauben würde, dass er noch einmal Orgel spiele, denn er habe das Gefühl, dass es doch das letzte Mal sein würde. Die Kameraden meuterten zwar, dass sie die Arbeit allein tun sollten, während der andere Orgel spiele, aber Herr Hapke holte den Schlüssel und erlaubte es dem jungen Soldaten trotzdem. Und nun war es doch ein unheimliches und beklemmendes Gefühl - draußen wurde es dunkel und überall war Furcht und Angst und in unserer Kirche wurde wunderbar Orgel gespielt.
Das Pfarrhaus wurde in jener Nacht stark beschädigt. Es waren zum Teil Türen und Fenster herausgerissen, Lampen zersplittert und Möbel beschädigt. Pfarrhof und Kirchplatz lagen voller Geschosssplitter. Der Familie Hapke samt den Evakuierten war außer Angst und Schrecken nichts passiert, da der tiefe Gewölbekeller einigen Schutz bot. Als der alte Bauer Dökel, Ecke Schmiedestraße, einmal in der Nacht kurz aus seinem Hause schaute, ist er anschließend schreckensbleich zu seinen Angehörigen zurückgekommen und hat gesagt: „Im Pfarrhaus kann keiner mehr leben, da ist eben eine ganz schwere Salve hineingerasselt.“ Aber es konnte sich ja niemand hinauswagen. Da hörten wir plötzlich über uns das Getrampel von schweren Stiefeln und dachten - aus, die Engländer kommen. Doch dann hörten wir eine Stimme immer nach unserem Herrn Pastor rufen und erkannten Herrn Dökel und wir meldeten uns im Keller. Diesem alten, treuen Mann hatte der Gedanke keine Ruhe gelassen, ob im Pfarrhaus vielleicht doch noch Hilfe nötig sei und so war er einfach losgelaufen und war auch glücklich herüber gekommen. Er freute sich sehr, uns alle lebend vorzufinden, aber er musste dann bei uns im Keller bleiben bis es hell wurde und der Beschuss aufhörte...
Als die Engländer am 8. April früh einrückten, musste Herr Hapke sofort mit zwei englischen Soldaten auf den Kirchturm, um zu zeigen, dass kein SS-Soldat mehr oben war. Auch Pfarrhaus und Kirche wurden vom Keller bis zum Boden gründlich nach SS-Männern durchsucht. Ein Rest der Einheit hatte sich in der Nachbarschaft versteckt, wurde aber gefunden und kam in die Gefangenschaft.
Als Mitte April die Kampfhandlungen in unserem Gebiet beendet waren, wurde Herr Hapke eines Morgens unter starker Bewachung in einem englischen Jeep zum Wald in Richtung Nienburg gefahren. Am Waldrand warteten schon Rehburger Einwohner, die der NSDAP angehört hatten, und mussten nun unter Aufsicht und Anleitung von Pastor Hapke die noch in den letzten Tagen gefallenen und meistens noch in ihren „ Ein-Mann-Löchern“ steckenden deutschen Soldaten - oder was von ihnen noch übrig geblieben war - zusammensuchen, auf einen Ackerwagen laden und zum Rehburger Friedhof fahren. Es war eine grausige Arbeit, denn vielen Gefallen war der Kopf abgerissen. Es waren dort neuartige Streugeschosse verwendet worden, die ungefähr acht bis zehn Meter über dem Erdboden explodierten und gegen die es fast keinen Schutz gab. Zu diesen armen Kerlen, die dort zuletzt noch sinnlos ihr Leben lassen mussten, gehörte auch unser Orgelspieler! Es wurden noch 15 Soldaten gefunden und Herr Hapke hat sie noch am selben Tag beerdigt. Sie waren alle nur in eine Decke eingeschlagen, bekamen aber auf Anordnung des Kirchenvorstandes alle Einzelgräber. …
Auch für Bad Rehburg brachte das Jahr 1945 viele Schwierigkeiten. Die Lungenheilstätten mussten geräumt werden und wurden mit Flüchtlingen aus dem Osten und später mit Ausländern, hauptsächlich Polen, belegt. Unter den Flüchtlingen waren auch viele Kinder im Alter von drei bis vier Jahren, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten und die kaum ihren Vornamen sa- gen konnten. Viele dieser Kinder starben an Unterernährung und mussten “unbekannt“ begraben werden.
Es ist auch vorgekommen, dass zwei sich völlig fremde Menschen - aus Mangel an Särgen- in einem Sarg bestattet werden mussten, weil die zweite Beerdigung aus gesundheitlichen Grün- den nicht aufgeschoben werden durfte. Es waren ja fünf Heilstätten voll belegt mit kranken Men- schen, da gab es jeden Tag Todesfälle. Zum Glück wurden viele Verstorbene dort beerdigt, wo ihre Angehörigen untergekommen waren.
Es gab für den Geistlichen damals oft schwierige Situationen. Ich erinnere mich genau, dass Herr Hapke einmal zu einem jungen, sterbenden Polen gerufen wurde, der abwechselnd nach seiner Mutter und nach einem Popen schrie. Was tun? Der Pole konnte nicht deutsch und Herr Hapke nicht polnisch. Als nun Herr Hapke das Sterbezimmer betrat, hatte der Junge ein billiges, mit Perlen besetztes Kruzifix in den Händen, das er immer küsste. Herr Hapke nahm nun die Hände des Sterbenden mit dem Kruzifix, faltete seine eigenen Hände darüber und sprach ein Gebet. Der junge Pole verstand nichts von dem Gebet, aber P. Hapke nickte ihm ganz be- ruhigend zu. Darauf wurde der Junge ganz still und ist kurze Zeit später ruhig eingeschlafen...
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