Eine Predigt aus unserer Zeit

„Lasset uns wachen und nüchtern sein.“

Der Jahrestag der Pogromnacht jährte sich 2008 zum 70. Mal, als Wolfram Braselmann, Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Münchehagen, die folgende Predigt in der Kirche im Dorf hielt. Zwei kleine Zeugnisse von Courage während der Zeit des Nationalsozialismus hat er einfließen lassen:

Es hat sich, liebe Gemeinde, ergeben, dass zum Jahrestag des 9. November 1938, jenes Tages, an dem in Deutschland die Synagogen brannten und Menschen jüdischen Glaubens verfolgt und ermordet wurden, dass zu diesem Jahrestag dieser Predigttext vorgesehen ist, dieser Text, in dem es heißt: „Lasset uns wachen und nüchtern sein“. Und, in der Tat, in jenen Jahren in Deutschland, als so viele besoffen waren vom Rassenwahn, auch in jenen Jahren hat es solche gegeben, die wachsam waren und nüchtern blieben.

 

Als am Morgen des 9. November 1938 die Kinder zur Schule kamen, direkt neben der Kirche hier, wo heute das Altenheim ist, da liefen die Lehrer schon in braunen Uniformen und SA-Stiefeln über den Schulhof. Und ein Lehrer hat damals den Kindern gesagt: „Kinder“, hat er gesagt, „Ihr habt heute frei!“. Da haben die Kinder gefragt, warum sie frei haben. Und da hat der Lehrer gesagt: „Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen.“

 

Es gab nämlich damals bei uns in Münchehagen als einem Dorf des Stiftsbezirks Loccum keine Juden, die man hätte verjagen können. Ältere Gemeindeglieder wollen wissen, dies habe damit zusammengehangen, dass das Kloster Loccum stets zu verhindern gewusst habe, dass sich Angehörige jenes Volkes, das Jesus gekreuzigt hat, im Schatten der Stiftskirche Loccum niederlassen. Wenn das so war, dann hat das mit den Ereignissen jener Jahre und jenes Tages zu tun.

 

Der Lehrer hat also gesagt: „Wir müssen die Juden in Rehburg verjagen!“, und da haben die Kinder von den Juden erzählt, die sie kannten, die damals manchmal als Hausierer über die Rehburger Berge nach Münchehagen kamen. Und ein Mädchen hat gesagt: „Zu uns kommt immer ein Jude, der Leder verkauft.“ Da hat der Lehrer das Mädchen gefragt: „Wie heißt der Jude?“ Und da hat das Mädchen gesagt: „Das sag ich Ihnen nicht.“ Und noch heute sagt die über achtzigjährige Frau, die aus dem Mädchen geworden ist: „Ik heb het öhne niet seggt“ - „Ich habe es ihm nicht gesagt.“

 

Das war vielleicht ein freches, wahrscheinlich ein tapferes und jedenfalls ein vergebliches Schweigen über den Namen jenes Juden. Die kleine Lina, sie hat den Juden, der Leder verkaufte, nicht retten können, vor dem Gas, dem Hungertod, dem Genickschuss oder was immer mit dem Juden, der Leder verkaufte, geworden sein mag. Aber sie hat seinen Namen nicht gesagt.

 

Und am Abend desselben Tages ist ein Handelsvertreter mit Namen Alfred Blanck durch die nächtlichen Straßen Münchehagens gelaufen, hinüber zu der Mühle, deren Reste noch heute an der Straße nach Stadthagen zur linken Hand zu sehen sind. Und Alfred Blanck hat an die Tür des Wohnhauses an der Mühle geklopft, und der Müller hat geöffnet.

 

Und ich stelle mir vor, der Müller hat gefragt: „Was machst du noch so spät hier in Münchehagen? Warum bist du nicht zu Hause, bei deinen Leuten in Hannover?“ Und Alfred Blanck muss geantwortet haben: „Ich kann nicht dorthin. Sie haben mich gewarnt. Sie suchen mich dort!“ Und der Müller mag gesagt haben: „Ach ja, du bist ja ...“. „Jude“, wird Alfred Blanck geantwortet haben, „ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, wenn du mir nicht hilfst.“ Und ich stelle mir vor, wie der Müller in den nächtlichen Himmel über Münchehagen geblickt hat. Und ob es nun deshalb war, weil der Müller wie jeder rechtschaffene Christenmensch in Münchehagen Sozialdemokrat war und die Nazis aus tiefster Seele hasste, oder ob es so war dass er, was vorgekommen ist - warum soll ich lügen? - an diesem Abend zu tief ins Glas geschaut hatte und die Folgen seines Handelns gar nicht übersehen konnte: Jedenfalls muss er gesagt haben: „Komm rein!“, und Alfred Blanck ist hineingegangen, und am nächsten Morgen, im klaren Licht des neuen Novembertags, hat der Müller Alfred Blanck die Sachen eines Müllerburschen gegeben, und so hat Alfred Blanck eine ganze Zeit in der Mühle gelebt und gearbeitet, und war so vielleicht der einzige Jude, der jemals, wenn auch illegal in Münchehagen gelebt hat.

 

Und niemand hat etwas gemerkt, und wenn jemand etwas gemerkt haben sollte, so hat er getan, als hätte er nichts gemerkt, und auch der Schneider, der ein paar Häuser weiter wohnte und schon seit den zwanziger Jahren das braune Hemd trug, hat auf die ein oder andere Art von der ganzen Sache nichts mitbekommen. Soweit kennen wir die Geschichte. Und den Schluss, den kennen wir auch.

 

Was dazwischen geschehen ist, wann Alfred Blanck die Mühle wieder verlassen hat, was für Menschen er begegnet ist und wie es ihm in den Jahren ergangen ist, haben wir bislang noch nicht in Erfahrung bringen können.

 

Ich habe aber einen Mitarbeiter des Stadtarchivs Hannover für die Sache interessieren können. Und ich weiß noch, wie ich tief aufgeatmet habe, als er mich nach einiger Zeit angerufen hat und gesagt hat: „Stellen Sie sich vor: Alfred Blanck hat zu den Überlebenden gehört!“ Er hat nach dem Krieg noch einige Zeit in seinem Elternhaus in der Altstadt in Hannover gelebt und ist dann zuletzt in die Nordstadt gezogen, und hat dort in Frieden sterben können. Und das ist nicht wenig für ein Leben, das in solcher Gefahr war.

 

„Lasset uns wachen und nüchtern sein“: Es hat sie gegeben, solche Menschen, die wachsam blieben und nüchtern, Gott sei Dank. Und wenn Gott es will, wird es sie immer wieder geben. Amen.

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