Fünf Morde und ein tragischer Irrtum

Kriegsgefangene richten 1943 Massaker an

Leichenzug: Die Särge der Familie Wallbaum auf dem Weg zum Friedhof von Neuenknick.
Leichenzug: Die Särge der Familie Wallbaum auf dem Weg zum Friedhof von Neuenknick.

 „Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung“ – so heißt es von dem Trauerzug, der am 3. Januar 1944 durch die Felder bei Neuenknick zog. Vier Leichenwagen, von Pferden gezogen, dahinter schwarz gekleidete Menschen. Fassungslos angesichts dessen, was passiert war. „Meine Familie“, sagt Lotta Fischer und zeigt auf die Särge. Dem, was ihren Vorfahren zugestoßen ist, wollte die Schülerin auf die Spur kommen.

 

 

 Eine Facharbeit zum Thema Nationalsozialismus.  Als diese Aufgabe in ihrem Geschichtsleistungskurs am Herder Gymnasium Minden ausgegeben wurde, stand für Lotta fest: „Ich will die Hintergründe zum Mord an meiner Familie ergründen.“ Jenen an ihren Ururgroßeltern, deren sechsjährigem Sohn Erwin und an ihrer Großtante Minna. Ermordet von zwei Kriegsgefangenen zur NS-Zeit auf deren eigenem Hof in Neuenknick. Für die 17-Jährige begann eine Odyssee durch die Dörfer, die im Zusammenhang mit dieser grausigen Tat standen.

 Diese Tat nahm am 26. Dezember 1943 in der Münchehäger Gaststätte „Deutsches Haus“ ihren Anfang. Einige Zeit zuvor war im Saal des Deutschen Hauses ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene eingerichtet worden. Tagsüber mussten sie auf umliegenden Höfen arbeiten, abends hatten sie sich in der Gaststätte einzufinden. Eingesperrt und bewacht.

 

Wachposten in Münchehagen erschlagen

 

 In jener Weihnachtsnacht pochten des Abends zwei Gefangene an die Tür und fackelten nicht lange, als der einzige Diensthabende ihnen öffnete: Sie erschlugen ihn, stachen ihm mit seinem eigenen Seitengewehr die Augen aus und forderten die Gefangenen auf, mit ihnen gemeinsam zu fliehen.

Ihr Plan ging nicht auf. Statt mit den Eindringlingen das Weite zu suchen, liefen etliche der Gefangenen verängstigt zu ihren Arbeitgebern und berichteten, was geschehen war.

Von all dem erfuhr Lotta, als sie auf Spurensuche ging. In ihrer Familie, sagt sie, sei kaum über das geredet worden, was sich wenige Tage später ereignen sollte. Ihre Oma, die vieles vom Hörensagen kennen müsse, habe wenig Interesse an Geschichte. Sonst sei niemand mehr da, der berichten könne.

 So blieb es beim gelegentlichen Munkeln. Auch für sie und ihre ältere Schwester Anna, die doch Geschichte studiert hat, sei dieses einschneidende Ereignis erst in den Blick gerückt, als die Facharbeit ausgegeben wurde. Mit umso mehr Engagement stürzte sich Lotta auf das Thema, nahm Tipps von Anna an und ließ sich von ihr zu Recherchezwecken chauffieren.

 In einer Chronik über ihren Heimatort Neuenknick entdeckten sie alte Zeitungsartikel. Sie lasen, dass die Gefangenen – der 25-jährige Russe Ivan Sorotschan und der 23-jährige Ukrainer Ivan Makarenko – von Münchehagen nach Neuenknick flohen. Dort drangen sie zwei Tage später in das Haus der Familie Wallbaum ein. Den Vorfahren Lottas und Annas, die sie auf bestialische Art ermordeten.

 

Frage nach den Hintergründen der Morde

 

 Weshalb? Warum diese Tat an dieser Familie? Wieso wurde selbst der kleine Erwin niedergemetzelt?

 

Lotta bat unseren Arbeitskreis um Hinweise. Allein in Rehburg-Loccum, erfuhr sie, gab es neun solcher Lager – eines davon in Münchehagens Deutschem Haus.  

 

Lotta Fischer (rechts) und ihre Schwester Anna holen sich bei Heinrich Lustfeld von unserem Arbeitskreis Rat bei ihren Recherchen.
Lotta Fischer (rechts) und ihre Schwester Anna holen sich bei Heinrich Lustfeld von unserem Arbeitskreis Rat bei ihren Recherchen.

 Wir nutzten unser Netzwerk von Petershagen bis ins Schaumburgische. So kamen Bruchstücke zusammen. Aus der Chronik des Lehrers Kitzel aus Neuenknick, der Lebensgeschichte eines Münchehägers, aus Büchern zu Kriegsgefangenen und aus Dokumenten, die in die Arolsen Archives führten, einem der größten Archive zu Verfolgungen in der NS-Zeit.

 

 Eine Bad Rehburgerin hatte berichtet, dass Ivan Sorotschan in ihrem Haus gearbeitet hatte. Wir machten die Tochter des ehemaligen Gastwirts des Deutschen Hauses ausfindig, arrangierten ein Interview der beiden jungen Frauen mit der mittlerweile 90-Jährigen.

 

Gastwirtstochter gibt Auskunft

 

 Sie erinnerte sich gut an diesen Weihnachtsabend 1943. Ihr Großvater habe seine Skatrunde gerade verabschiedet, als das Telefon klingelte. „Gott sei Dank, ihr lebt!“, rief ein Landwirt aus dem Dorf in den Hörer, als der Großvater abnahm. Der Sowjet, der ihm zugeteilt war, hatte ihn über den Mord an dem Wachmann informiert. Nun trieb ihn die Sorge um. Die Gastwirtsfamilie hatte von dem, was sich Wand an Wand ereignet hatte, nichts mitbekommen. Das Dorf war jedoch bereits in Aufruhr. 

Im „Deutschen Haus“ in Münchehagen nahmen die Ereignisse Weihnachten 1943 ihren Anfang.
Im „Deutschen Haus“ in Münchehagen nahmen die Ereignisse Weihnachten 1943 ihren Anfang.

 Auch der damals 16-jährige Werner Wesemann nahm in seinen Aufzeichnungen Bezug auf diese Schreckensnacht. Ein Nachbar habe ihre Familienfeier mit der dringenden Bitte um ein Gewehr und Munition gestört. Das Dorf sei auf den Beinen, um die Sowjets zu jagen. In den nächsten Tagen hätten sie mit allen zur Verfügung stehenden Leuten die Wälder und Felder abgesucht, aber nichts gefunden.

 

 Von dieser vergeblichen Suche erzählte auch die Gastwirtstochter, wusste außerdem noch, dass drei Wachleute sich im Deutschen Haus abgewechselt hatten. Einer mit Namen Schumacher, der aus Loccum stammte, einer, der aus Bremen kam. Weil diese beiden Weihnachten mit ihren Familien verbringen wollten, habe der alleinstehende dritte Wachmann Dienst gehabt. Wolny oder Wolnitzki habe er geheißen. Als unauffälligen Mann beschreibt sie ihn, alt aus ihrer damaligen Sicht. Um die 60 Jahre. So, wie alle, die Gefangene bewachten. Diese Aufgabe sei schließlich solchen zugeteilt worden, die zu alt waren oder aus anderen Gründen nicht mehr eingezogen werden konnten.

 Ob Sorotschan und Makarenko im Deutschen Haus gefangen gehalten wurden? Das weiß sie nicht und dazu konnte auch niemand sonst Auskunft geben. Kein Zeitzeuge, kein Archiv.

Woran sie sich aber erinnert, ist der Name des Wachmanns, nach dem die beiden Sowjets eigentlich suchten: Wallbaum. Das war auch der Familienname von Lottas Vorfahren.

 

Die Morde: Ein tragischer Irrtum

 

 Die Schülerin hatte in Neuenknick in der Zwischenzeit erfahren, dass die Männer ihre Familie keineswegs zufällig getötet hatten. Mehrfach ist ihr bestätigt worden, dass sie nach „Wallbaum“ suchten. Was Lotta ebenfalls erfuhr: Der Mord an ihnen war offensichtlich ein tragischer Irrtum – nicht diese Familie, sondern eine andere, die diesen Namen trug, hatten die Geflohenen im Visier. 

Marie und Konrad Wallbaum (rechts) und deren Sohn Erwin (vorne) wurden ermordet. Tochter Marie (zweite von links) entging dem Massaker.
Marie und Konrad Wallbaum (rechts) und deren Sohn Erwin (vorne) wurden ermordet. Tochter Marie (zweite von links) entging dem Massaker.

 Woher der Hass auf „Wallbaum“ kam? Die Wirtstochter berichtet von einem SA-Führer in Münchehagen, der so hieß und für seine Schärfe gegenüber Gefangenen bekannt war. Und Lotta erfährt, dass in Neuenknick eine weitere Familie namens Wallbaum lebte.

 

 Wen die Männer suchten, ist vermutlich nicht mehr aufzuklären, Fakt ist jedoch, dass sowjetische Kriegsgefangene wesentlich schlechter behandelt wurden als alle anderen Nationen. Den Nazis galten sie als „Untermenschen“, deren Leben ihnen nicht mehr wert war als die Arbeitskraft, die sie an den Stellen einbringen konnten, an denen deutsche Männer fehlten, wenn sie an der Front kämpften.

 Die Todesrate unter den gefangenen Sowjets war um ein Vielfaches höher als bei allen anderen, die Essensrationen kleiner und ihr Ansehen in der Bevölkerung gering.

 Inwieweit all das auch auf das Lager in Münchehagen zutraf, lässt sich ebenfalls nicht mehr nachvollziehen. Die Wirtstochter spricht davon, dass sie gut behandelt wurden, Wesemann vermerkt, dass sie mit der Arbeit auf den Höfen die „Sonnenseite der Kriegsgefangenschaft“ erlebten.

 

 

Krieg entmenschlicht

 

 Es liegt allerdings nahe, dass Sorotschan und Makarenko übel mitgespielt wurde und jener Wallbaum daran einen erheblichen Anteil hatte. Die Taten der beiden rechtfertigt das nicht, lässt sich aber vermutlich als ein Beispiel unter vielen für das Entmenschlichende von Kriegen heranziehen.

 Am Morgen des 29. Dezember 1943 entdeckte ein Nachbarjunge der Wallbaums eine blutige Schleifspur, an deren Ende Konrad Wallbaum in einer Furche lag. Dessen Frau Marie und den kleinen Erwin entdeckte er - ebenfalls tot - im Stall. Schwiegertochter Minna lag mit durchschnittener Kehle in der Küche.

 Die Jagd auf die beiden Männer begann und endete noch am selben Tag im rund vier Kilometer entfernten Ilse. Dort hatten sie sich in der Scheune eines Bauernhofs versteckt und baten eine Zwangsarbeiterin um Hilfe. Deren Angst war jedoch groß, sie verriet die Männer und bald war die Scheune umstellt. Sorotschan und Makarenko versuchten zu fliehen, indem sie die Scheune in Brand steckten. Es half ihnen nicht. Als sie herauskamen, wurden sie angeschossen, bis zum Neujahrstag waren beide tot. Ihren Verletzungen erlegen, wie es den meisten Dokumenten zu entnehmen ist. 

Einer von vielen Hinweisen: In den Arolsen Archives ist dieses Dokument hinterlegt, das den Tod der beiden Kriegsgefangenen dokumentiert.
Einer von vielen Hinweisen: In den Arolsen Archives ist dieses Dokument hinterlegt, das den Tod der beiden Kriegsgefangenen dokumentiert.

 Die beiden jungen Frauen haben ihre Familie nach dieser Odyssee deutlicher vor Augen. Das Zögern ihrer Großmutter, über das zu reden, was früher war, machte eine entfernte Verwandte wett, die sie zuvor nicht kannten, die sie nach ihrer Anfrage aber sofort zu sich einlud. Als Fundgrube entpuppten sich auch einige Kisten auf dem Dachboden, vollgestopft mit Fotos bis hin zu jenen von dem Leichenzug mit vier Särgen, der am 3. Januar 1944 unterwegs zum Friedhof in Neuenknick war.

 

 Aus der Familie Wallbaum geleitete lediglich Marie, Tochter von Konrad und Marie, Schwester von Erwin und Schwägerin von Minna, die Toten. Marie, die Lottas und Annas Urgroßmutter war und die dem Gemetzel entging, weil sie an jenem Tag auf dem Hof ihres Verlobten arbeitete.

April 2023

 

Hier geht es zu der Facharbeit von Lotta Fischer:

Facharbeit Lotta Fischer, 2023
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