„Das Gefühl, willkommen zu sein“

Brief aus Israel an „die lieben Menschen in Rehburg“

Zur Verlegung von Stolpersteinen für Mitglieder ihrer Familie sind Jose und Evelyn Hammerschlag Ende November aus Israel nach Rehburg gereist. Es ist nicht ihr erster Besuch zu den Wurzeln ihrer Familie gewesen – wohl aber der erste für ihre Söhne Ruben, Ariel und Yair.

Begegnungen mit Menschen aus Rehburg hat es am Tag der Stolperstein-Verlegung gegeben und auch am Tag zuvor. Zum jüdischen Friedhof ist die Familie von Rehburgern ebenso geführt worden, wie auch durch das Kloster Loccum, wurde im Heimatmuseum bewirtet und hat einen Gang durch den Ortskern entlang der Geschichte der jüdischen Gemeinde gemacht. Im Vordergrund haben bei allem die Gespräche gestanden – mit Menschen, die Jose und Evelyn Hammerschlag bereits von früheren Besuchen kannten, mit Mitgliedern des Arbeitskreises Stolpersteine und mit vielen anderen, die manchmal nur den Nachfahren der ehemaligen Nachbarn die Hand geben wollten.

Zurück in Israel hat der jüngste Sohn der Familie, Yair Hammerschlag, seine Eindrücke von diesem Besuch in einem Brief zusammengefasst. Seine Mutter Evelyn hat den Brief vom Hebräischen ins Deutsche übersetzt – und ihn zur Veröffentlichung frei gegeben:

4. Dezember 2015

An die lieben Menschen in Rehburg

Yair Hammerschlag (links) – hier mit seinem Vater Jose – ist zum ersten Mal nach Deutschland gekommen – und hat aus Israel einen Brief an die Menschen, denen er in Rehburg begegnet ist, geschrieben.
Yair Hammerschlag (links) – hier mit seinem Vater Jose – ist zum ersten Mal nach Deutschland gekommen – und hat aus Israel einen Brief an die Menschen, denen er in Rehburg begegnet ist, geschrieben.

Ich werde nicht eure Namen nennen, denn es waren viele, welche uns aufgenommen haben und an diesem wunderbaren Projekt teilnahmen, aber es ist mein Wunsch bitte diese meine Worte, an alle Teilnehmer weiterzugeben.

Es ist schon eine Woche vergangen seit unserem Treffen, und noch weiß ich nicht, ob ich im Stande bin, alle meine Gefühle auf dieses Blatt zu bringen. Ihr habt uns so wunderbar aufgenommen und wir haben bei diesem besonderen Besuch so vieles gehört und gesehen.


Schon vom ersten Moment in Wiedenbrügge, als einige Abgesandte der Gruppe uns empfingen, verstand ich welch besondere Menschen ihr seid, und als weitere Stunden verliefen und wir mehr und mehr Menschen eurer Stadt trafen, vertiefte sich bei mir dieses Gefühl. Dabei war mir bewusst, wie wichtig es euch ist, den schrecklichen Zeiten welche in Deutschland und ganz Europa zwischen den 1930er Jahren bis 1945 verliefen, in die Augen zu schauen, und dass dieses Thema für euch wichtig und ans Herz gewachsen ist.


Ich glaube dass ich nur wenig von den Gefühlen verstehen kann, welche ihr - als zweite und dritte Generation - im Herzen tragt.


Als Juden und Israelis sind wir nicht daran gewöhnt, die Sachen von eurem Standpunkt aus zu sehen. Ihr habt uns die interessante Gelegenheit gegeben, dem allen anders ins Gesicht zu schauen.

Obgleich wir sprachliche Verständigungsprobleme hatten, da ich kein Deutsch spreche und nur wenige von euch Englisch sprechen, konnte man genau merken was ihr fühlt und sagen wollt: durch eure Taten, Teilnahme und durch eure Augen, welche oft Tränen fließen ließen.


Als Jude von europäischer Herkunft ist das "Familien-Puzzle" ziemlich kompliziert. Obgleich Israel mein Heim ist, hatte ich mein ganzes Leben den Wunsch, mehr zu verstehen. Der Besuch in Rehburg, mit all dem, was ihr uns zeigtet und erklärtet, füllte für mich einen großen Teil in diesem "Familien–Puzzle".


Außerdem, war es eine sehr angenehme Atmosphäre bei euch, so dass ich in diesen zwei Tagen richtig das Gefühl bekommen habe, dass ich in Rehburg willkommen bin und mich zu Hause fühle. Es war sehr schön zu sehen, dass Ihr als "Kinder" dieser Stadt unsere Vorfahren, welche hier vor mehr als 70 Jahren lebten, nicht vergessen habt. Und dieses, trotz vieler Veränderungen und manchmal auch dem Willen die schreckliche Zeit der Geschichte zu vergessen.

Für all dieses möchte ich mich besonders bedanken.


In diesen Tagen, in welchen Hass, Schlechtigkeit und furchtbare Angriffe jeden Tag in verschiedenen Sprachen und Kleidung vorkommen, sind eure Taten wichtiger als je. Ich habe das Glück gehabt dieses zu erleben bei euch, und ich will es unterstützen und unterstreichen, wie wichtig es ist. Und so möchte ich sagen "Gebt es nicht auf, macht weiter, auch wenn es Menschen gibt, welche andere Ideen haben.“


In meinen Augen seid ihr tapfere Menschen, welche der Geschichte ohne Furcht in die Augen schauen, und um Versöhnung bitten wegen der Taten der vorigen Generationen.

Ich hoffe dass unser Besuch euch noch mehr Energien gegeben hat für Euer Schaffen.


Ich danke euch von ganzem Herzen


Yair Hammerschlag

Zum Besuch der Familie Hammerschlag in Rehburg

Rede von Bürgermeister Martin Franke anlässlich der Eintragung ins Goldene Buch der Stadt Rehburg-Loccum am 5. August 2014

Liebe Familie Hammerschlag, liebe Gäste,

ich begrüße Sie im Namen des Rates und der Verwaltung der Stadt Rehburg-Loccum, aber auch ganz persönlich sehr herzlich hier im Rathaus der Stadt.
Dieser etwas überdimensionierte Saal strahlt leider nicht annähernd die Herzlichkeit aus, die wir Ihnen gerne entgegenbringen möchten!

Liebe Familie Hammerschlag, den Eingangssatz zur Begrüßung sage ich so oder so ähnlich sehr häufig, wenn wir Gäste hier im Rathaus empfangen – insofern ist da natürlich eine gewisse Routine dabei, auch wenn uns alle unsere Gäste tatsächlich natürlich gleichermaßen herzlich willkommen sind.
Bei Ihnen allerdings ist dieser Begrüßungssatz alles andere als routiniert – Ihr Besuch in Rehburg ist in jeder Hinsicht etwas ganz Besonderes für mich, für uns und daher eine große Freude und Ehre zugleich. Und es ist auch eine große Geste Ihrerseits, die uns mit Demut und Dankbarkeit erfüllt.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
Sie hätten eigentlich heute gar nicht unsere Gäste sein sollen. Sie hätten eigentlich unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger sein sollen. Hätte die Geschichte vor rund 70 Jahren nicht diesen fürchterlichen Verlauf genommen, würden wir Sie heute wahrscheinlich nicht als von weit her angereiste Gäste begrüßen, sondern wir wären uns als Nachbarn, Freunde, Vereinskollegen, vielleicht sogar als Verwandte und Verschwägerte schon immer begegnet, wären miteinander aufgewachsen – hätten miteinander gestritten, gefeiert – gespielt, gebaut und geerntet, hätten uns geholfen und hier und da miteinander konkurriert – geradeso, wie Menschen in einer Stadt das miteinander tun.

Weil der nationalsozialistische Terror über das Land gekommen ist und unermessliches Leid, unglaublichen Schmerz und himmelschreiendes Unrecht verbreitet hat, ist es anders gekommen und wir begegnen uns heute zumindest äußerlich als Fremde. Im Herzen und im Geiste allerdings sind Sie aber für uns eben nicht Fremde, sondern Nachbarn, Freunde, Vereinskollegen, Verwandte und Verschwägerte.

 

Man tut sicher unrecht daran, die Geschichte der Familie Hammerschlag in Rehburg allein auf die Zeit während der NS-Zeit zu reduzieren. Trotzdem ist das die Zeit, die uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind – vermeintlich Fremde. Und so habe ich mich in der Vorbereitung auf Ihren Besuch, natürlich auch mit der Zeit des NS-Regimes in Rehburg befasst. Und es ist tiefbewegend, ja häufig erschütternd zu lesen, dass die Nazi-Verbrechen, die man ja aus dem Schul­unterricht kennt oder aus Filmen und Büchern, dass diese Verbrechen nicht irgendwo statt­gefunden haben, sondern hier, hier vor Ort!

Hier in Rehburg, hier in und vor den Häusern, die wir heute noch kennen, begangen an Menschen und begangen von Menschen, die auch unsere Nach­barn, Freunde, Ver­eins­kollegen, Verwandte und Ver­schwägerte waren.

 

Es steht mir heute nicht zu, über einzelne Menschen zu urteilen, zu Fragen, ob Sie Überzeugungstäter waren oder gleichgeschaltete Mitläufer und damit selbst Opfer, die von der Angst um die eigenen Familien getrieben waren. Aber es graust einem geradezu, wenn man in einer alten Schulchronik lesen kann:

  • „Stadt Rehburg wählte zu 100%, alle gaben ihre Stimme dem Führer“ (Eintrag vom 29.03.1936 zur Reichstagswahl)
  • Oder wenig später: „Feierliche Hissung der HJ-Fahne an der Schule in Rehburg; 100% der Oberstufenkinder in der HJ organisiert“ (Eintrag vom 04.07.1936)
  • Ein weiterer, kaum zu ertragender Eintrag vom 10.04.1938 lautet: „Die Stadt Rehburg gab dem Führer am Tage der Schaffung Großdeutschlands zu 100% die Ja-Stimme!“

 

Zu diesem Zeitpunkt hatte Ihr Vater und Großvater Salomon Hammerschlag mit den Kindern Selma, Julius und Paula nebst deren Ehepartnern bereits die Flucht angetreten und hat Rehburg am 14. Februar 1938 in Richtung Argentinien verlassen.

Damit tat er wahrscheinlich das einzig Richtige, denn die politische und gesellschaftliche Unkultur war kurz vor der systematischen Vernichtung von menschlichem Leben angekommen – erste Konzentrationslager waren errichtet, die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung so massiv und lückenlos, dass ein Leben auch in der dörflichen Nachbarschaft des kleinen Rehburg nicht mehr möglich war.

Deshalb sind wir heute nicht Nachbarn, Freunde und Bekannte. Natürlich nicht wegen der Flucht der Familie, sondern wegen der sie auslösenden dramatischen Ereignisse im Vorfeld des Ausbruches des Zweiten Weltkrieges.

 

Ich will heute nicht die Frage nach der Schuld des Einzelnen stellen, das habe ich ja schon gesagt. Im Zweifel ist sie auch schnell beantwortet, denn die Schwere der Verbrechen, die begangen wurden, lassen den Schluss, jemand der Beteiligten sei unschuldig gewesen, schlicht nicht zu. Auch die Abgrenzung der „juristischen“ von der „moralischen“ Schuld führt nicht zu einer befriedigenden Antwort oder gar zur Entlastung.

Das ist ein Grund dafür, dass ich die Frage der Schuld heute nicht aufwerfen möchte. Ein weiterer – und das ist für mich der wesentliche Grund, liegt darin, dass diese Frage uns nicht zu einer Lösung führt.

 

Ich bin 1966 geboren, meine Tochter 1998, das sind 21 bzw. sogar 53 Jahre nach dem Ende von Nazideutschland. Wir und damit alle Menschen unserer Generationen haben diese schreckliche Zeit nicht erleben müssen. Wir sind deshalb – egal in welcher Facette nicht schuldig! Aber wir sind verantwortlich!

 

Verantwortlich dafür,

  • dass das Geschehene nie vergessen wird!
  • dass die schrecklichen Ereignisse jener Zeit eine ewige Mahnung bleiben, damit niemals wieder Ideologien greifen können, die so menschenverachtend und so hasserfüllt alles menschliche Zusammenleben vergiften
  • dass die Werte von Toleranz und Menschlichkeit nie wieder so mit Füßen getreten werden
  • dass allen etwa aufkommenden Tendenzen mit Mut und Zivilcourage entgegen getreten wird!

 

Dass diese Verantwortung nicht nur eine Worthülse ist, können wir allesamt jeden Tag in den Nachrichtensendungen überall auf dem Globus live und in Farbe mitverfolgen. Ob in Ihrem Heimatland, in Israel, im Gazastreifen, in der Ukraine, in Nigeria oder an viel zu vielen anderen Orten auf dem Globus – die Aufgabe dieser Verantwortung gerecht zu werden ist hier und jetzt da – und sie wird, so fürchte ich, niemals erledigt sein.

 

Sie, liebe Familie Hammerschlag, haben den Nazi-Terror in Rehburg auch nicht erleben müssen, die Älteren unter Ihnen haben aber die Folgen dieser Ereignisse unmittelbar erlebt. Trotzdem sind Sie hier hergekommen, in den Ort indem Ihre Wurzeln liegen und in dem gleichzeitig auch die Entwurzelung Ihrer Familie so dramatisch stattgefunden hat.

Dafür danke ich Ihnen noch einmal sehr herzlich, gibt es uns doch die Gelegenheit etwas von der beschriebenen Verantwortung wahrzunehmen.

Ich meine jetzt die Verantwortung für unsere Taten, um das Vorgesagte auch erfüllen zu können. Wir alle gemeinsam haben die Verantwortung wieder Brücken zu bauen – Brücken zwischen Menschen, die mal Nachbarn waren und jetzt weit voneinander entfernt leben. Wo sie schon da sind, müssen wir diese Brücken auch belastbar gestalten, sie verstärken und sie begehen – in beide Richtungen.

Nur so kann man voneinander lernen, kann einander verstehen und Respekt oder gar Sympathie für einander entwickeln. Sie tun das dankenswerter Weise durch Ihren Besuch!

Wir sind nicht die Generation der Schuldigen, aber wir sind die Generation der verantwortlichen Brückenbauer und Brückenbegeher. Und das werden auch noch unsere Kinder und Kindeskinder sein, ja sein müssen! Deshalb freue ich mich auch außerordentlich über unsere jungen Gäste, die diese Verantwortung weiter tragen müssen!

 

Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind! Ich möchte Sie gleich bitten, sich in das Goldene Buch der Stadt einzutragen, damit würden Sie uns eine große Freude machen.

Der Eintrag lautet: „Erinnerung als Wert für die Zukunft – Die Rehburger Familie Hammerschlag anlässlich ihres Besuches in Rehburg-Loccum im August 2014“, um auch quasi schwarz auf weiß zu belegen, dass Sie unsere Nachbarn, Freunde, Vereinskollegen, Verwandte und Verschwägerte – unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger sind!

 

Herzlich Willkommen!

Es war mir ein Bedürfnis, Ihnen das zu sagen und nicht einfach ein paar Daten zum heutigen Rehburg aneinander zu reihen.

Besuch aus Israel setzt Zeichen der Versöhnung

Wie die Familie Hammerschlag jetzt in Rehburg begrüßt wurde - nicht als Gäste, sondern als Nachbarn

DIE HARKE, 7. August 2014

Rehburg-Loccum (ade). 1938 floh die jüdische Familie Hammerschlag aus Rehburg vor dem Nazi-Regime. Den Ort, an dem sie ansonsten heute zu Hause wären, haben Nachfahren der Familie aus Israel besucht - auch, um ein Zeichen der Versöhnung zu setzen.

Vermutlich 1911 ist das Foto von den vier Kindern der Familie Hammerschlag an der grünen Tür ihres Hauses in Rehburg entstanden.
Vermutlich 1911 ist das Foto von den vier Kindern der Familie Hammerschlag an der grünen Tür ihres Hauses in Rehburg entstanden.

Das beigelegte Foto, das seinen Vater Julius und dessen drei Schwestern Frieda, Paula und Selma zeige, schrieb Jose Hammerschlag vor einigen Wochen aus Israel, sei 1911 aufgenommen worden - an der grünen Tür ihres Hauses in Rehburg. Diese grüne Tür wollte er bei seinem Besuch in Rehburg unbedingt sehen. Groß war die Freude, als er feststellte, dass sie immer noch existiert. Auf dem Foto mit der grünen Tür aus dem Jahr 2014 sind nun Jose Hammerschlag, sein Bruder Arnoldo, deren Frauen und zwei ihrer Enkeltöchter zu sehen - glücklich lächelnd, weil sie an diesem Ort stehen können.

Nicht als Gäste sondern als Nachbarn empfangen: die Familie Hammerschlag trägt sich in das Goldene Buch der Stadt Rehburg-Loccum ein.
Nicht als Gäste sondern als Nachbarn empfangen: die Familie Hammerschlag trägt sich in das Goldene Buch der Stadt Rehburg-Loccum ein.

Er würde sie nicht als Gäste begrüßen, hatte kurz zuvor Rehburg-Loccums Bürgermeister Martin Franke im Ratssaal gesagt. Vielmehr würde er sie als Nachbarn, als Verschwägerte oder als Vereinskollegen begrüßen - denn das wären sie heute, wenn ihnen nicht so übel mitgespielt worden wäre. „Erinnerung als Wert für die Zukunft“ hat er als Überschrift in das Goldene Buch der Stadt setzen lassen. Auf jener Seite, auf die die sechs Familien­mitglieder anschließend ihre Namen setzten.

 

1938 war es, als Jose Hammerschlags Großvater Salomon beschloss, Deutschland den Rücken zu kehren und zu fliehen. Noch vor der Pogromnacht, noch einige Jahre bevor die Verfolgung der jüdischen Mitbürger ihren Höhepunkt erreichte und bevor die systematische Vernichtung der Juden durch die Nazis begann, hatte Salomon Hammerschlag das Gefühl, dass es besser sei zu gehen.

Argentinien war das Ziel der Familie. Mit Salomon gingen seine Töchter Selma und Frieda sowie Sohn Julius und deren Ehepartner. Tochter Paula folgte mit ihrem Mann zwei Jahre später. Salomons Frau Bertha war bereits 1924 gestorben. Große Teile der Familie zogen später von Argentinien nach Israel.

 

Einer der Gründe, weshalb sie flohen, war vermutlich ein Ereignis, von dem Jose Hammerschlag sagt, dass seine Eltern es ihnen in Argentinien oft erzählten. Es sei nämlich so gewesen, dass die Familie über Generationen hinweg in Rehburg ihren Lebensunterhalt mit einer Fleischerei verdiente. Einer ihrer größten Kunden sei das Kloster Loccum gewesen. Von dort habe die Familie allerdings an einem Freitagabend Ende 1936 oder aber auch Anfang 1937 Besuch von einem Bediensteten des Klosters bekommen. Die Familie habe sich eben zum feierlichen Abendessen angesichts des nahenden Shabath zu Tisch gesetzt. Die Kerzen seien schon entzündet gewesen, als der Mann aus dem Kloster ihnen mit Tränen in den Augen angesichts des jüdisch-familiären Bildes gesagt habe, dass die Geschäftsbeziehungen zum Kloster Loccum ab sofort beendet seien „wegen der Vorschriften, welche wir von Oben bekamen“.

 

Was nach der Flucht aus Deutschland folgte, hat Jose Hammerschlag in einem weiteren Brief beschrieben: „Im März 1938 kamen meine Eltern in Buenos Aires an und ein paar Tage später wurden sie - mit anderen Immigranten - zu der Kolonie Moises Ville geschickt, 650 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Dort bekamen sie ein Stück Land, 75 Hektar groß, ein paar Kühe, Pferde, Arbeitsgeräte und ein sehr primitives kleines Haus. Das Haus war aus Ziegeln und von innen mit Lehm bestrichen. Das Dach aus Blech, kein fließendes Wasser, Elektrizität oder Sanitäreinrichtung im Haus.

Aber dies alles konnte nicht das Glücksgefühl trüben, sich von den Schauern Europas gerettet zu haben. Aber dieses Glück war natürlich beschattet von dem schrecklichen Gefühl, die Lieben der Familie nicht retten zu können! Die Eltern meiner Mutter fanden ihr tragisches Ende in Auschwitz.

Das Leben war hart in der argentinischen Landwirtschaft und überhaupt - ohne die Sprache zu können, welche sie bis zum Ende ihres Lebens kaum sprechen lernten… Sie lebten immer weiter wie Immigranten... In vielen Momenten versuchten sie, uns über ihre Vergangenheit zu erzählen, über ein Deutschland, welches sie betrogen hat und Schlimmes angetan hat. Aber doch hingen sie an den schönen Erinnerungen von dort.“

 

Die Entscheidung Salomons, Rehburg zu verlassen, war weise. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in der kleinen Stadt, die dort blieben und abwarteten, wurden allesamt in Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Nur eine einzige Frau kam lebend von dort zurück.

2004 schon hat Jose Hammerschlag am Grab eines seiner Vorfahren auf dem jüdischen Friedhof in Rehburg gekniet.
2004 schon hat Jose Hammerschlag am Grab eines seiner Vorfahren auf dem jüdischen Friedhof in Rehburg gekniet.

Für Jose Hammerschlag ist es nicht die erste Reise nach Deutschland. 1978 kam er gemeinsam mit seinen Eltern dorthin, um das Grab seiner Großmutter zu besuchen. Damals trafen sie niemanden, wollten auch wohl keinen Kontakt haben, wie er sagt. Zu groß sei die Befürchtung seiner Eltern gewesen, denjenigen zu begegnen, die damals zu den Nazis gehörten. Das nächste Mal besuchte er den Ort, der seine Heimat hätte sein können, im Jahr 2004 gemeinsam mit seiner Frau Evelyn. Damals hatte er sich bei der Stadt angemeldet und um Kontakt gebeten. So kam die Verbindung zum Rehburger Bürger- und Heimatverein zustande - ein Kontakt, der nie wieder abgerissen ist. Im Frühjahr dieses Jahres machte eine Gruppe der Rehburger Kirchen­gemeinde einen Gegenbesuch in Israel. Woraufhin nun die Familie zu Gast bei der Kirchengemeinde gewesen ist.

Familienfoto an der grünen Tür: bis 1938 hat die Familie Hammerschlag in dem Haus in Rehburg gelebt, an dessen Tür nun drei nachfolgende Generationen stehen.
Familienfoto an der grünen Tür: bis 1938 hat die Familie Hammerschlag in dem Haus in Rehburg gelebt, an dessen Tür nun drei nachfolgende Generationen stehen.

Immer wieder hat Jose Hammerschlag bei diesem Besuch in Rehburg betont, dass es ihm um Versöhnung geht. Dass es ihm nicht um Entschuldigungen geht. Diejenigen, deren Vorfahren ihnen Unrecht getan hätten, hätten schließlich keine Schuld auf sich geladen. In erster Linie sei es ihm wichtig, die Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschehe, nicht nur in seiner Generation deutlich zu machen, sondern es auch an die nächsten Generationen weiterzugeben.

 

In diesem Sinne sind während des Besuches einige Zeichen sowohl von den Gästen aus Israel, die doch eigentlich Nachbarn sind, und von den Gastgebern aus Rehburg-Loccum gesetzt worden. Spontane Umarmungen gehören dazu - wie zwischen Jose Hammerschlag und Erika Lustfeld vom Bürger- und Heimatverein.

Zeichen der Versöhnung im Kapitelsaal des Klosters Loccum: Evelyn Hammerschlag nimmt ihre Enkelin in den Arm, nachdem sie einen Psalm auf Hebräisch gesungen hat.
Zeichen der Versöhnung im Kapitelsaal des Klosters Loccum: Evelyn Hammerschlag nimmt ihre Enkelin in den Arm, nachdem sie einen Psalm auf Hebräisch gesungen hat.

Und auch die Beziehung zum Kloster Loccum hat einen neuen Klang bekommen - mit einem Gebet auf Deutsch und Hebräisch, das Jose Hammerschlag und der Alt-Prior, Dieter Zinßer, gemeinsam im Kapitelsaal des Klos­ters vortrugen. Zum Ende sang Ham­mer­schlags Enkelin einen Psalm auf Hebräisch. Sichtlich bewegt sagte Zinßer, dass es das an diesem Ort noch nicht gegeben habe.

 

Mit einem Versprechen ist Jose Ham­mer­schlag mit seiner Familie nach Israel zu­rückgereist: es sei seiner dritter, aber nicht sein letzter Besuch in Rehburg gewesen. Er habe noch die Verpflichtung, seinen Söhnen zu zeigen, wo ihre Wurzeln seien.

Zum PDF mit der Original-Seite der HARKE gelangen Sie hier:
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